Der Matilda-Effekt – was ist das?

Namensgeberin des Phänomens des Matilda-Effekt ist die US-amerikanische Frauenrechtlerin, Aktivistin und Soziologin Matilda Joslyn Gage. Im Jahr 1870 schrieb sie ein Pamphlet mit dem Titel Woman as Inventor – Frauen als Erfinderinnen – und verurteilte die damals weit verbreitete Idee, Frauen besäßen keinen erfinderischen Drang und kein wissenschaftliches Talent: „Solche Aussagen werden leichtfertig oder unwissend gemacht. Dabei beweisen Tradition, Geschichte und Erfahrung, dass Frauen diese Fähigkeiten in höchstem Maße besitzen“, heißt es in dem Essay.

Dieses Pamphlet fiel etwa hundert Jahre später der Historikerin Margaret Rossiter in die Hände, die seither in mehreren Büchern die Errungenschaften vergessener Wissenschaftlerinnen aufbereitet hat. In einem Essay aus dem Jahr 1993 mit dem Titel The Matilda Effect in Science nahm sie auf Gage Bezug und taufte das Phänomen der nicht beachteten Wissenschaftlerinnen auf ihren Namen. „Jüngste Arbeiten haben so viele historische und aktuelle Fälle von Wissenschaftlerinnen ans Licht gebracht, die ignoriert wurden, denen die Anerkennung verweigert wurde oder die anderweitig aus dem Blickfeld gerieten, dass hier ein geschlechtsgebundenes Phänomen vorzuliegen scheint“, schrieb Rossiter damals.

Und tatsächlich: Das Problem geht tief. „Oft ist es der Nobelpreis, den eine Wissenschaftlerin nicht bekommen hat, aber es ist viel mehr als das“, sagt Katie Hafner, Journalistin und leitende Produzentin des Podcastprojekts Lost Women of Science. „Es geht darum, nicht in einer Studie genannt zu werden; nur ein Sternchen oder eine Fußnote zu sein.“ In der Datenbank zu Lost Women of Science gibt es laut ihr Hunderte Wissenschaftlerinnen, die dem Matilda-Effekt zum Opfer fielen. „Das Problem, dass die Anerkennung nur an Männer geht, besteht schon extrem lange“, sagt Hafner. „Es ist wirklich eine Tragödie“.

Beispiele: (un)bekannte Frauen, die vom Matilda-Effekt betroffen sind

ALTERTUM

Der wohl älteste bekannte Fall des Matilda-Effekt betrifft die Philosophin und Mathematikerin Theano, die im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt hat und die Frau von Pythagoras war. Obwohl sie zu einem Teil seiner Erkenntnisse beigetragen hat, wurde schlussendlich alles als seine Arbeit deklariert. Es wird nicht mehr geklärt werden können, wie hoch auch der Anteil der beiden Töchter Myia und Damo tatsächlich war, denen zumindest einige Schriften zugeordnet werden konnten. Bei der Tradition über Pythagoras und seiner Schule ist aber vieles unsicher und spekulativ.

Trotula, eine italienische Ärztin aus dem 11. Jahrhundert, schrieb Abhandlungen, die so bedeutend waren, dass sie im Verständnis der Zeitgenossen unmöglich von einer Frau stammen konnten: Schon ein Jahrhundert später erschienen Kopien ihrer Texte unter dem Namen ihres Mannes. Noch im 20. Jahrhundert vertrat der Wissenschaftshistoriker Karl Sudhoff die These, dass Trotula eine Hebamme und keine Ärztin gewesen sei.

Die Mathematikerin Pandrosion aus Alexandria, die sogar lange als Mann in der Wissenschaftsgeschichte geführt wurde.

 

NEUZEIT

In Resonanz auf Marie Curies Besuch in den USA 1921 schrieb ein Journalist der New York Times, dass es auch in Zukunft mehr Männer als Frauen in der Wissenschaft geben würde, da es letzteren an der Fähigkeit mangele, Fakten abstrakt statt nur relational zu sehen.

Auch die Formulierung des Matthäus-Effekts selbst kann als durch den Matilda-Effekt beeinflusst angesehen werden: In einem Essay über den Matthäus-Effekt bemerkt Robert K. Merton, dass er selbst sich so intensiv auf Arbeiten seiner Mitarbeiterin und späteren Frau, der US-Soziologin Harriet Zuckerman, gestützt habe, dass der von ihm 1968 veröffentlichte Artikel The Matthew Effect in Science unter ihrer beider Namen hätte veröffentlicht werden müssen.

Albert Einstein veröffentlichte eine Arbeit, die er als sein alleiniges geistiges Werk ausgab, nachdem er vorher angeblich gesagt hatte: Wie glücklich und stolz werde ich sein, wenn wir beide zusammen unsere Arbeit über die Relativbewegung siegreich zu Ende geführt haben, wobei die andere Hälfte des wir sich auf seine erste Frau Mileva Marić (1875–1948), die ebenfalls Physikerin und zudem Mathematikerin war, bezog. Wobei umstritten ist, ob dies ein Beweis für ihre Mitarbeit war.

Auswahl einiger nachweislich Betroffener:

  • Marie Colinet (starb nach 1638), Wundärztin und Hebamme
  • Nicole-Reine Lepaute (1723–1762), Astronomin und Mathematikerin
  • Ada Lovelace (1815–1852), Erstellerin von Computerprogrammen, Namenspatin der Programmiersprache
  • Ada Eunice Foote (1819–1888), Erfinderin und Forscherin
  • Nettie Stevens (1861–1912), Genetikerin
  • Lise Meitner (1878–1968), Kernphysikerin, siehe auch: Lise-Meitner-Preis
  • Marietta Blau (1894–1970), Physikerin
  • Gerty Cori (1896–1957), Biochemikerin
  • Chien-Shiung Wu (1912–1997), Physikerin
  • Kamal Ranadive (1917–2001), Biomedizinerin
  • Katherine Johnson (1918–2020), Mathematikerin
  • Hedy Lamarr (1919–2000), Erfinderin und Schauspielerin (USA) siehe auch: Hedy Lamarr Preis
  • Rosalind Franklin (1920–1958), Biochemikerin, siehe auch: Rosalind Franklin Award
  • Esther Lederberg (1922–2006), Mikrobiologin
  • Stephanie Kwolek (1923–2014), Chemikerin
  • Marthe Gautier (1925–2022), Kinderärztin
  • Martha Chase (1927–2003), Genetikerin
  • Daisy Roulland-Dussoix (1936–2014)
  • Jocelyn Bell Burnell (* 1943), Radioastronomin

Wo hat der Effekt seinen Ursprung? Der Genie-Kult